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Geständnisse des Fleisches

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Prof. Dr. Volker Caysa (Leipzig/ Lodz):
Zwei Grundformen empraktischen Körperhandelns
[Auszug eines noch unveröffentlichten Manuskriptes]

Wird man ein guter Radrennfahrer, wenn man die mathematische Formel kennt, nach der sich ein Radfahrer dadurch im Gleichgewicht hält, „dass jede zufällige Gleichgewichtsschwankung durch eine Fahrtkurve ausgeglichen werden muss, und zwar so, dass der Radius der momentanen Kurve proportional sei dem Quadrat der Geschwindigkeit, dividiert durch den Winkel der Abweichung des Rades von der Vertikale“? – Wir können mit einiger Sicherheit sagen: Wahrscheinlich nicht. Um sich bewegen zu können muss man nicht Physik studiert haben, wie man zur Verdauung nicht die Physiologie und zum Denken nicht die Neurobiologie kennen muss. […]
Es gibt also ein implizites Wissen, das ohne Explikation funktioniert und es gibt eine Form unmittelbarer Rationalität (im Sinne von unmittelbar funktionalem und effektivem Handeln) ohne metastufige Rationalität. Ja man muss wohl feststellen, dass jedes körpertechnische Handeln als Empraxis schon eine Rationalitätsform in dem Sinne ist, dass es im Zustand vermittelter Unmittelbarkeit als unmittelbarer Funktionalität gelingt, sein Handeln auf eine bestimmte Art und Weise zu organisieren, in dem man sein elementarstes Mittel, über das man verfügt, der Leib als Körper, für einen bestimmten Zweck gelungen einsetzt.
[…]
Haben wir gelernt, wie man Rad fährt, Schuhe zubindet oder wie man die Rechtschreibung überprüft, dann verschieben wir dieses Wissen mindestens ins Vorbewusste, wenn nicht gar ins Unbewusste und naturalisieren es auf diese Art und Weise, so dass es apriorisch erscheint, obwohl es das nicht ist. Während also für die psychoanalytische Praxis gilt: „Wo Es war, soll Ich werden“ gilt für das Empraktische das Gegenteil: Wo Ich war, soll Es werden! Im Empraktischen ist also nicht das Ich Herr im Haus, sondern anscheinend das Es. Bewusstsein, ja Selbstbewusstsein erscheint im Empraktischen als etwas zu Vermeidendes, da es dessen schnelles Funktionieren durch Reflexion verhindert. Funktionierende Empraxis, sowohl im normalen und im virtuosen Sinne, schließt einen Denkaufschub, eine Hemmung und Verschiebung der Reflexion ein. Denn das Denken der Gedanken kann sich zwischen uns und den zu vollziehenden Handlungsablauf stellen und ihn so in seinem Fluss unterbrechen, dass er misslingt. Die Mauer des Nachdenkens muss deshalb in einer funktionierenden Praxis, wenn nicht niedergerissen, so doch mindestens beiseite oder nach hinten geschoben werden.
Demzufolge wird im Empraktischen nicht erinnert, sondern per Automatisierung und Routinisierung vergessen gemacht. Vergessen meint hier, dass antrainiertes, angelerntes Wissen und Können, nicht mehr explizit als solches Metawissen wahrgenommen und implizit habituell erinnert wird. Es findet also eine Habituation von explizitem Wissen durch Repetition, Routinisierung und Automatisierung statt und dadurch kommt es zu einem Gewöhnungslernen, dass per implizitem Gedächtnis funktioniert. Die Gewöhnung, das ist ihre Stärke, braucht kein explizites Gedächtnis, um sich zu erinnern. Im Gewohnten erinnern wir uns immer je schon, ohne uns zu erinnern.
[…]
Kurzum: In dem Maße wie die Reflexion von elementaren Grundformen von Könnerschaft tiefer und dunkler wird, können unsere Entwurfsleistungen immer sublimer, strahlender und komplexer werden.
Das empraktische Handeln ist im Grunde das Normale, insofern es die Regelmäßigkeiten und Bewegungsformen einverleibt, durch die unser alltägliches Leben funktioniert.
[…]
Damit aber eine in sich widersprüchliche Bewegungserfahrung als Anreiz zur Vervollkommnung sich tatsächlich selbst zu transzendieren vermag, muss ein weiteres Element untrennbar mit dem Bewegungshandeln verbunden werden: die Bewegungsphantasie.
[…]
Der Ort für das Entstehen neuer, anscheinend vorbildloser Vorbilder ist der leibhaftige Spiel-Raum. Im echten, leibhaftigen Spielraum herrschen nicht nur nach Vorbildern geregelte Bewegungen vor, sondern die Bewegungen werden gerade im Spiel auch entgrenzbar, im Probieren, das wesentlich zum Spiel gehört, entsteht ein Überschuss an Bewegungen, eine Art Überproduktion von Bewegungen durch den Zufall von Versuch und Irrtum, von Misslingen und Gelingen.
[…]
Jede Rekonstruktion ist eine Interpretation. Das Gleiche ist niemals das Selbe. Mit dem Gleichen wird immer ein Unterschied gesetzt wie Identität ein Effekt von Differenz ist und selbst Differenz produziert.
[…]
Das Genie im strengen Sinne schafft neue Regeln und Normen, die dann die anderen normalisieren, für deren Hervorbringung zunächst aber keine Regeln anzugeben sind. Es bricht mit den Regeln, ohne selbst Regeln angeben zu können. Das Genie der Virtuosenempraxis ist ein Genie des Regelbruchs und impliziter Regelwiederholung.
[…]

Details

Datum:
9. Oktober 2007
Zeit:
19:15 - 20:45

Veranstaltungsort

HGB, Raum 2.24
Leipzig,