Volker Caysa / Empraktische Vernunft


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Dieses Buch geht aus vom Tod Nietzsches – Nietzsches Denken ist tot, wir aber wollen das Leben denken.

Im Anschluss an Martin Heidegger, Ernst Bloch, Karl Bühler und Pirmin Stekeler thematisiert der Band eine neue Philosophie der Praxis, die die Heideggersch-Blochsche Existenzialanalyse der Stimmungen mit einer empraktischen Handlungs- und Wissenstheorie verknüpft. Das Empraktische steht gegen die Zivilisationskrankheit der Hyperreflexivität. Wir leiden nicht an einem Übermaß von Selbstbewusstsein, sondern am Übermaß von Reflexivität. Die maßlose Rationalisierung aller Lebensbereiche löst nicht unsere Lebensprobleme, sondern schafft erst neue.

Das Empraktische ist das vortheoretische Zurechtkommen in der Welt und ist gekennzeichnet durch eine begriffslose Präzision, durch die wir erfolgreich leben. Eine Philosophie des Empraktischen versucht eine Theorie zu entwerfen für etwas, was auch ohne Theorie funktioniert. Die damit verbundene Körperanalytik trägt der Tatsache Rechnung, dass all unser Wissen, Denken und Handeln leiblich vermittelt ist, dass der Mensch ein leibendes Wesen ist, ein trinitarisches Wesen, das durch Leib, Stimmung und Gehirn bestimmt wird. All unser Denken und Handeln basiert auf dem Dunkel der gelebten Leiblichkeit und all unser Wissen weist auf diese zurück und empfängt von dorther seinen Sinn. Leiblich gestimmt werden wir geworfen und entworfen und dadurch erfahren wir auch die prinzipielle Unverfüglichkeit der Praxis, die uns determiniert. Diese Unverfüglichkeit mag uns verunsichern, sofern sie aber gelingt, erfahren wir die damit verbundene Nichtreflektiertheit positiv. Ja, wir gewinnen sogar Vertrauen in die Nichtreflektiertheit und dieses Vertrauen erzeugt in uns die Sehnsucht nach dem Glück gelingenden Handelns, indem man sich mit sich und der Welt eins und einig zu sein glaubt.

Entgegen rationalistisch verkürzten Handlungs- und Wissenstheorien soll mit der Philosophie des Empraktischen der der selbstbewussten Praxis immer je schon vorgängige leiblich gestimmte Handlungsvollzug thematisiert werden.

Das Buch knüpft an aktuelle Debatten um unmittelbar körperliche, implizite Wissensformen wie auch an die Diskussion um eine Philosophie der Gefühle an.

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Der Autor

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Volker Caysa ist Privatdozent an der Universität Leipzig und lehrt dort Philosophie. Von 2002-2013 war er Professor an den Universitäten Opole und Lodz. Seine Hauptarbeitsgebiete sind: Anthropologie des Körpers, Philosophie der Stimmungen.

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Rezensionen

 

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>> Buchbesprechung von Johannes Eichenthal

 

 

Wulf Skaun

Der Sprengstoff der schwarzen Affekte

Volker Caysas Philosophie der empraktischen Vernunft begründet Zweck und Mittel, thymotische Defizite linken Denkens und Handelns zu überwinden

Die anderthalbjährige Geschichte von 15 Jour-fixe-Foren an der Leipziger Dependance der RLS Sachsen ist nicht nur ihres unkonventionellen kommunikations- und erkenntsfreundlichen Diskurses wegen eine Erfolgsstory. Sie ist auch eine Geschichte beglückender Erfahrungen beim gemeinschaftlichen „Erklettern steiler wissenschaftlicher Pfade“. Ihr 16. Kapitel, Mitte Juni 2016 geschrieben, dürfte vorerst als Gipfelpunkt geistiger Herausforderung in Erinnerung bleiben. Auf der Agenda stand, von Manfred Neuhaus eingangs als „großer Wurf“ gewürdigt, das „Opus magnum“ des durch eine bemerkenswert umfängliche Publikationsliste ausgewiesenen Leipziger Philosophen Volker Caysa: „Empraktische Vernunft“. Mit der Kommentierung seines gedankenreichen, unorthodoxen Werkes nahm der Autor das bemühte Auditorium jedoch rasch mit auf den argen Weg der Erkenntnis, seine innovative Praxis- und Begriffsdialektik im Marxschen Sinne als Denkanstöße und Handlungsanleitung für heutige linke Politik zu verstehen.

Ganz in diesem Sinne näherte Caysas Philosophenkollege Peter Fischer die wiederum stattliche Jour-fixe-Gemeinde dem Thema an, indem er dem Amt des Moderators das des Rezensenten vorlagerte. Einschlägige eigene Forschung (über empraktische Kommunikation) und gekonnte Transformation der tiefgründig-speziellen philosophiehistorischen und -logischen Überlegungen Caysas auf die populärwissenschaftliche Ebene erschlossen auch dem Unkundigen Inhalt und Zweck des im Frühjahr erschienenen dickleibigen Buches. Fischer bereitete die darin entwickelten Thesen Caysas zur Philosophie der Praxis pointiert auf: empraktische Vernunft als Weiterdenken traditioneller Auffassungen: weg von einem zu einseitig gefassten Praxisbegriff als wesentlich rationales,verstandgesteuertes, überreflektiertes Subjekt-Objekt-Verhältnis. Hin zu Anerkenntnis und Einbeziehen vorbegrifflicher, nonverbaler, seelisch-leiblicher Ausdrucksformen in Denk- und Handlungsstrukturen, die auch ohne Reflexion funktionieren. Empraktische Vernunft als Seinsform primärer Praxis, als immanentes Merkmal aller anderen (höheren) Praxis- und Bewusstseinsformen.

Volker Caysa vertiefte auf dieser Grundlage seine zentrale Idee von der praktischen Gestaltungskraft der Affekte, Stimmungen, Emotionen. Der Meisterschüler des legendären Leipziger Philosophen und Mitbegründers der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen Helmut Seidel erklärte, er radikalisiere dessen Auffassung, die marxistische Praxisphilosophie müsse durch eine spinozistische Affektenlehre ergänzt werden, vor allem mit Ernst Bloch. Wie jener, nur konsequenter, wolle er „die Stimmungs- und Leibvergessenheit einer abstrakt-rationalistischen Praxisphilosophie“ aufheben. Dies gehe einher mit seiner Kritik gegen eine ökonomistische Verkürzung der Marxschen Praxisphilosophie, die in ihrem Ursprung eindeutig stimmungsontologisch angelegt, aber von Marx selbst nicht mehr, sondern erst von Ernst Bloch (Hoffnung als Aufhebung der Entfremdung) und Erich Fromm (Sinn des Habens) weitergeführt sei. Vor ihnen habe bereits Max Weber erkannt, dass Gesellschaft nicht über rein ökonomistische Regulationsmechnismen funktioniert, sondern wesentlich auch über anscheinend ,irrationale‘ Momente wie Gefühle. Volker Caysa folgert daraus: „Meines Erachtens muss die Kritik der politischen Ökonomie durch die Kritik der politischen Emotionen ergänzt werden. Daher ist meine Ausgangsthese: Kulturen regeln sich nicht allein ökonomisch-funktional, sondern sie basieren auf vorgängigen, oft untergründig wirkenden Stimmungen... Es geht um die politische Dimension von Stimmungen: Sie regeln das Gemeinschaftsleben grundlegend… Souverän ist heute, wer über den Thymos, also die Stimmungslage, einer Kultur verfügt. Daran wird sich der Kampf der Kulturen entscheiden.“ Seine Analyse heutiger Politik der Linken mündet in der kritischen Konklusion, die Linke müsse Hegemon über die moderne Kultur werden. „Sie muss wieder die Herrschaft über den Thymos der Gesellschaft erlangen.“ Aktuell seien thymotische Defizite linken Denkens nicht zu übersehen. Linke Philosophen der Gegenwart verstünden nicht, die „thymotischen Energien der Masse zu rationalisieren und alternativ zum philosophischen Konservatismus zu zentrieren.“ Ein Fehler, wie ihn ein einseitig rationalistischer Aufklärungsmarxismus schon in den 20er und 30er Jahren beging. „Man nimmt die Stimmungen aus … dem Untergrund, der schweigenden Mehrheit, dem Rand der Gesellschaft nicht wahr, will sie nicht wahrhaben und glaubt, sie allein mit Verstand in den Griff zu bekommen. Das kann nicht funktionieren, wie schon Spinoza und im Anschluss daran Helmut Seidel immer wieder erinnerte, weil ein Affekt nur durch einen stärkeren Affekt beherrscht werden kann.“ Man müsse daher die Logik der Stimmungen, vor allem auch den „Sprengstoff der schwarzen Affekte“ wie Eifersucht, Neid und Hass der Massen analysieren, wenn diese erreicht, verstanden werden und regierbar bleiben sollen. Nötig sei also eine entwickelte Affekttheorie, denn die formale Logik des Verstandes basiere wesentlich auf der Logik von Stimmungen. „Und dieses behaupte ich auch für die Logik der Praxis…“ Dass empraktische Vernunft jenes Handeln steuert, das schon anwesend ist, ohne dass der Mensch es reflektiert habe oder es reflektieren müsse.

Was bereits des Dichters Goethe empirische Weisheit ahnte – „Geduld, Hoffnung, Glaube, Liebe, alle diese Tugenden sind die Vernunft actu, in Ausübung, sie sind die ausgeübte Vernunft“ – hat der Philosoph Caysa nun hinreichend theoretisch begründet.

Die Diskussion konzentrierte sich auf Caysas Kritik, die Linke suche ihre Programmatik zu einseitig auf der kognitiven Ebene, über die Ratio, zu vermitteln. Indem sie zugleich Erkundung und Berücksichtigung der Gefühle, der Stimmungen, der Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen vernachlässige, insbesondere auch ihrer „schwarzen Affekte“, treibe sie auch bisherige Parteigänger und Sympathisanten neoliberalen, rechtskonservativen Alternativen zu. Einig war sich die Runde daher in der Erkenntnis, linke Thematisierung von Stimmungen dürfe nicht als Populismus denunziert werden.

Wulf Skaun

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Volker Caysa

Empraktische Vernunft

Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 2016.

439 Seiten, € 79,95

Um Formen und Gebrauchsweisen der Vernunft zu unterscheiden, wurden ihr bereits viele Attribute zugeschrieben: reine, praktische, historische, instrumentelle, zynische und nun also auch noch empraktische Vernunft. Aber was bedeutet empraktisch? Der Wortbedeutung nach geht es um etwas in der Praxis, also darum, dass entweder etwas in eine Praxis eingebettet ist oder zu den immanenten Merkmalen der Praxis gehört.

Im ersten Sinne hat der Psychologe Karl Bühler das Wort „empraktisch“ eingeführt und in seiner Sprachtheorie verwendet: Eine Sprechhandlung, die in der Äußerung eines nicht vollständigen Satzes besteht, wird ohne sprachliche Ergänzung aufgrund ihrer Einbettung in einen praktischen Kontext verstanden. Wenn also z. B. ein Schaffner im Sinne einer empraktischen Rede sagt: „Die Fahrkarten“, dann verstehen die Reisenden im Zug, dass sie ihre Tickets zur Kontrolle vorzeigen sollen.

Vornehmlich im zweiten Sinne verwendet Volker Caysa das Wort. Ihm geht es darum, die Philosophie der Praxis weiterzuentwickeln. Der Praxisbegriff sei bisher zu einseitig auf die rationalen Moment des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ausgerichtet gewesen, eine Ausrichtung, in der eine gewisse Überreflektiertheit als Tendenz der Moderne ihren Ausdruck finde. Dementgegen soll nun das Augenmerk auf ein implizites Gewusst-wie im Tun-können gelegt werden. Für eine jede Praxis – von den Leibesübungen bis zum Philosophieren – erweisen sich je spezifische Formen des Könnens als unverzichtbar, die dem Subjekt im Vollzug nicht in der Weise expliziter Regeln bewusst sind und die es oftmals auch nicht durch ein Erlernen von Regeln erworben hat. Das simple Binden einer Schleife z. B. wird uns gezeigt, vorgemacht, und wir ahmen es nach, üben es. Dieses Können durch Regeln zu beschreiben, die auch noch für andere als alleinige Handlungsanleitung fungieren könnten, zeigt sich als erstaunlich schwierig. Caysa schreibt daher: „Empraktische Handlungsformen sind seelisch-leibliche Vollzugsformen, die auch ohne Reflexion funktionieren“ (S. 22). Der Ausdruck seelisch-leiblich zeigt an, dass es sich dabei um eine ursprüngliche Einheit von körperlichen und geistigen Fähigkeiten handelt. Das Empraktische habe also für die Praxis zum einen eine transzendentale Bedeutung, d. h. es sei eine immanente Bedingung der Möglichkeit ihres Vollzugs; zum anderen eine historische Bedeutung, insofern es die Art und Weise ihres Beginns, ihrer Einübung, charakterisiert.

Caysa geht aber noch einen Schritt weiter, indem er eine Unterscheidung von Grundformen der Praxis aus der Literatur aufgreift und im Sinne seines Ansatzes interpretiert. Folgende Grundformen können danach unterschieden werden: Erstens die primäre Praxis, an der wir teilnehmen, also unsere alltägliche Lebenspraxis mit ihrer Selbstverständlichkeit des Sichauskennens und des Könnens, in deren vertrautem Vollzug wir aufgehen. Zweitens die Praxis der Theoriebildung, in der eine Distanzierung und Thematisierung von Momenten der primären Praxis stattfindet, um Wissen zu explizieren und auf seine Geltungsbedingungen hin zu analysieren. Und schließlich drittens die theoriegeleitete Praxis, in der das theoretische Wissen bewusst zur Verbesserung praktischer Vollzüge eingesetzt und dabei zugleich überprüft wird. Caysa versteht die primäre Praxis als empraktische Praxis. Diese sei grundlegend für alle anderen Praxis- und Bewusstseinsformen.

Welche sind nun die wesentlichen Momente der empraktischen Praxis? Caysa schreibt: „Empraxis kennzeichnet wesentlich, dass sie leiblich, vollsinnlich eingebundenes Vollzugshandeln ist, das durch den Leib gestimmt wird. Das empraktische Sein ist leiblich gestimmtes Dasein. Leiblich vermittelte Stimmungen bestimmen also unsere Empraxis, die unsere Praxis bestimmt, und dieses leibliche Gestimmtsein von Bewusstsein wird durch Existenziale rationalisierbar“ (S. 31). Sinnlichkeit, Leiblichkeit, Stimmungen – das sind also die grundlegenden Momente des Empraktischen, die hinsichtlich ihrer spezifischen Welterschließungsfunktion untersucht werden sollen.

Heideggers Begriff der Existenziale, also der Seinsweisen des Daseins, wird dabei zwar methodisch genutzt, aber dennoch ist Heidegger in inhaltlicher Hinsicht nicht der entscheidende Stichwortgeber. Diese Rolle kommt Ernst Bloch zu, insbesondere seinen Analysen zur Hoffnung, zur Sehnsucht und zum spezifisch menschlichen Hunger, der nicht allein durch Brot gestillt werden kann. Bloch ist also für Caysa der Denker, dessen Interpretation es ermöglicht, existenzialphilosophische Einsichten in die Tradition des marxschen Praxisbegriffs zu integrieren und so den Zusammenhang zwischen der Lebenspraxis der Individuen und der Praxis geschichtlicher Veränderungen zu thematisieren.

Caysa entfaltet sein Konzept in einer beachtlichen thematischen Vielfalt, die Körperhandlungen, Körperwissen, Erinnerungsformen, Weisen des Schweigens, Bedeutsamkeiten des Schmerzes, der Angst, der Armut, des Traumes, des Hungers, der Hoffnung und der Sehnsucht umfasst. Diese Studien gründen auf einer breiten Literaturbasis, aus der wohl Meister Eckhart, Nietzsche und Damasio, als Vertreter neuropsychologischer Gefühlstheorien, besonders hervorzuheben sind. Ein Kabinettstück ist Caysa mit dem elften Kapitel gelungen, dass keinen fortlaufenden Text sondern einzelne, sehr anregende Reflexionen über das Schweigen bietet. Es erinnert in formaler Hinsicht an das vierte Hauptstück aus Nietzsches Schrift Jenseits von Gut und Böse, ist aber im Unterschied zu diesem thematisch zentriert.

Das so umfang- wie gedankenreiche Buch weist einige Redundanzen auf, was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass frühere Fassungen einiger Kapitel vorab separat publiziert wurden. Jedenfalls kann es all jenen empfohlen werden, die sich für die Bedeutsamkeit von Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Emotionalität in unserer Lebenspraxis interessieren. Wer sich darüber hinaus über unterschiedliche Thematisierungen des Empraktischen informieren möchte, der kann den ungefähr zeitgleich von Konstanze Caysa und Harko Benkert herausgegebenen Sammelband „Denken des Empraktischen“ (Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang 2016; 325 Seiten) zurate ziehen.

Peter Fischer

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